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Fiktiver Erfahrungsbericht eines Judens während des zweiten Weltkriegs - Referat



Ich, Samuel Horowitz, zu dem Zeitpunkt 13 Jahre alt, besaß seit einigen Jahren ein kleines Notizbuch, dass mich durch Höhen und Tiefen begleitete und indem ich regelmäßig meine Gefühle und Gedanken festhielt. Es war der 14. August 1933 als sich mein und das Leben meiner Familie grundsätzlich ändern sollte. Auf den nächsten Seiten erfahrt ihr, was mir an diesem Tag und in den darauffolgenden Jahren widerfahren ist.
14. August 1933
Heute morgen kam Mama in das Zimmer von mir, um mich wie jeden Tag zu wecken. Als ich hinaufschaute bemerkte ich, dass ihre Augen mit Tränen gefüllt waren. Ich fragte sie, was los sei; ohne zu antworten verließ sie still mein Zimmer. Ich machte mich fertig und setzte mich an den Frühstückstisch, wo zu meinem Erstaunen meine ganze Familie vorzufinden war: meine Mutter, meine 2 jüngeren Schwestern Elina und Sara, mein großer Bruder Noah und mein Vater. Mein Vater – ich kann mich nicht daran erinnern, dass mein Vater jemals unter der Woche mit uns gemeinsam am Frühstückstisch saß. Die Anwesenheit meines Vaters war nicht das Einzige, was anders war. Es herrschte eine seltsame Stimmung, angespannt und einfach anders.

Mein Blick schweifte von meiner Mutter, deren Augen immer noch mit Tränen gefüllt waren, über meinem Bruder hin zu meinem Vater. Er sah erschöpft aus, ich merkte, dass hier irgendetwas nicht stimmte, ich sagte nichts. Nach dem Frühstück schickte meine Mutter Elina und Sara auf ihre Zimmer und schloss die Küchentür hinter ihnen. Meine Eltern nahmen gegenüber von meinem Bruder und mir Platz und schauten sich gegenseitig betrübt an. Plötzlich unterbrach das Weinen meiner Mutter die unangenehme Stille. Mein Vater schlug die Hände vor seinem Kopf zusammen und begann, mit gesenkter Stimme zu reden: „Ich kann nicht mehr in meiner Klinik arbeiten“ - ich sah ihn entsetzt an und wollte gerade fragen, was denn passiert sei, doch mein Vater winkte ab. „Wir werden hier in nächster Zeit öfter Besuch von meinen Patienten bekommen, die weiterhin von mir behandelt werden müssen. Das bedeutet, dass es auch hier einige Veränderungen geben wird. Du wirst dein Zimmer aufgeben und in das Zimmer von Elina ziehen.“ Ich hoffte, dass er mit Noah reden würde, doch eigentlich war ich mir ziemlich sicher, dass ich gemeint war. Er stand auf, was mir signalisierte, dass seine Entscheidung stand und er nicht weiter drüber reden wollte. Obwohl ich seine Entscheidung nicht nachvollziehen konnte, fand ich mich damit ab und machte mich niedergeschlagen auf den Weg zur Schule.

2. September 1933
In den letzten Wochen hat sich hier so einiges verändert. Als ich an dem besagten Tag. aus der Schule kam, wartete mein Vater bereits auf mich und wir räumten mein Zimmer so um, dass er seine Patienten hier behandeln konnte. Jeden Tag kamen nun einige Patienten vorbei, um sich von meinem Vater untersuchen zu lassen. Ich hasste den Anblick, sie in mein Zimmer gehen zu sehen, es war doch schließlich mein Zimmer. Ich verstand die Welt nicht mehr, diese ganzen Veränderungen und keiner machte den Mund auf, um mir zu erklären, was hier passiert, warum das alles passiert. Mit der Zeit glaubte ich aber, zu merken, dass immer weniger Patienten kommen würden. Ich reagierte empfindlich auf alle erkennbaren Veränderungen, also nahm ich meinen Bruder in einer ruhigen Minute zur Seite, um ihm meine Beobachten zu schildern. Er schaute mich zunächst verwirrt, dann verärgert an und sagte, dass ich mir alles einbilden würde und befahl mir, mich um meine eigenen Sachen zu kümmern. Mich ließ der Gedanke an die immer weniger werdenden Patienten jedoch nicht in Ruhe und irgendwann beschloss ich, meine Mutter damit zu konfrontieren. Ich musste nur auf den richtigen Zeitpunkt warteten, doch wann wusste ich, dass der Moment gekommen war? Tage vergingen und ich sagte nichts. Auch heute nicht.


18. Oktober 1933
Ich hatte eben doch Recht, meine Vermutungen schienen sich zu bestätigten. Vorgestern waren nur noch 12 Patienten da, gestern sogar nur noch 8 und sogar mein Bruder konnte nun nichts mehr gegen meine Vermutungen sagen. Ich beschloss, meine Mutter endlich zu fragen, warum Papa seine Praxis zu uns nach Hause verlagert hatte, warum ich mein Zimmer aufgeben musste, warum immer weniger Patienten kamen – ich wollte doch einfach nur wissen, was hier vor sich ging. Nach dem Mittagessen standen alle auf, nur ich blieb sitzen. Meine Mutter begann das Geschirr abzuspülen, bis sie bemerkte, dass ich immer noch nicht aufgestanden war. Sie beugte sich zu mir rüber, gab mir einen Kuss auf die Wange und fragte mich, ob ich etwas von ihr wollte. Eigentlich konnte ich nicht glauben, dass sie mich das eben wirklich gefragt hat. Nach all dem was sich verändert hatte, musste ihr doch klar sein, dass ich eine Erklärung haben wollte. Ich musterte meine Mutter von Kopf bis Fuß. Mir fiel auf, dass sie abgenommen haben musste, ihre Wangenknochen waren ausgeprägter als zuvor, ihre Augenhöhlen tiefer und dunkler, ihre Hände zitterten leicht. Das war zu viel, nicht nur unsere Umstände änderten sich, auch meine Mutter blieb nicht verschont. Ich erwischte mich dabei, wie ich anfing zu weinen. Ich konnte meine Gefühle nicht mehr unterdrücken, Zunächst liefen mir nur wenige Tränen übers Gesicht, ich fing an zu schluchzen und krallte mich an meine Mutter. Sie streichelte mir über den Kopf und versuchte mich zu beruhigen. Mit zerbrechlicher Stimme fragte ich sie, was denn bloß los ist. Sie drückte mich an sich und versicherte mir , dass alles gut werden würde.



26. November 1933
Die Tage wurden kürzer und kälter. Bald hatte ich Geburtstag. Viel hatte sich nicht getan, die Ungewissheit fraß mich von innen auf, doch ich wusste, dass mir keiner die Antworten geben würde, die ich hören wollte. Als ich am Abend von der Schule nach Hause kam, wartete meine Mutter bereits mit dem Abendessen auf mich. Sie fragte mich, wo ich so lange gewesen sei und ich gab an, nach der Schule mit zu Paul, meinem besten Freund, gegangen zu sein.
Eigentlich log ich meine Mutter nicht gerne an, im Grunde genommen schäme ich mich dafür, sie angelogen zu haben, aber ich konnte ihr die Wahrheit nicht erzählen. Ich wollte sie nicht auch noch mit meinen Problemen belasten.
In der Schule kam ein Junge, der zwei Klassen über mir ist, zu mir und beleidigte mich als Judensau. Ich hatte noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, geschweige denn irgendetwas getan und er kam zu mir und beleidigte mich. Ich konnte mich nicht beherrschen und schlug ihm auf die Nase. Erst im nächsten Moment realisierte ich, was ich getan hatte und plötzlich bildete sich ein Kreis von Schülern um uns, die uns anfeuerten. Ich wollte das alles doch gar nicht, meine Sorgen, Ängste, Wut - alles hatte sich aufgestaut ich war niemand der handgreiflich wurde, ich versuchte ihm aus dem Weg zu gehen, wurde durch die Masse aber wieder in den Kreis geschubst. Ich spürte einige starke Tritte in der Bauchhöhle, wehrte mich aber nicht – alles wurde schwarz. Als meine Augen sich öffneten, sah ich ein Mädchen über mir, die mich fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie hatte wunderschöne blonde Haare, blaue Augen und sinnliche volle Lippen, ich wollte antworten, doch meine Zunge blieb taub. Kurz darauf wurde ich unsanft aus diesem magischen Moment gerissen. Einer meiner Lehrer schrie mich an, dass ich aufstehen sollte und was für ein Schwächling ich doch war. Mir wurde vorgeworfen, dass ich mit dem Streit angefangen hätte, das stimmte doch gar nicht. Die ganze Welt wurde ungerecht, hätte er mich nicht beleidigt, wäre mir die Hand doch niemals herausgerutscht. Ich wurde zum Nachsitzen verdonnert und musste einen Aufsatz darüber schreiben, warum es falsch von mir gewesen ist, den Jungen zu schlagen.
Den ganzen Abend über ließ mich der Gedanke an das schöne Mädchen nicht los. Wer sie wohl war und wie sie hieß? Mir wurde klar, dass ich sie wiedersehen musste, noch bevor das neue Jahr beginnt. Ich schlief ein und träumte von ihr.

27. Dezember 1933
Heute war Sabbat. Früher freute ich mich die ganze Woche auf diesen Tag, ich liebte es mit meiner Familie zusammen zu sitzen, zu essen und mich mit ihnen zu unterhalten, doch heute störte mich diese Nähe. Ich distanzierte mich immer weiter von ihnen, lebte still neben ihnen her, nahm immer seltener an den gemeinsamen Mahlzeiten teil. Mir konnte keiner etwas vormachen. Ich merkte genau, dass Mama immer weniger aß, sie war noch magerer geworden, sogar Sara aß mehr als sie. Ich ging ins Wohnzimmer, setzte mich aufs Sofa und beobachtete meine Mutter dabei, wie sie die Kerzen anzündete. Sie sah gebrechlich aus. Der Anblick machte mich traurig und wütend zugleich. Ich konnte das nicht weiter mit ansehen, ich musste raus aus dieser Wohnung. Ich stand auf, knallte die Tür hinter mir zu und begann zu laufen. Ziellos. Ich lief weiter und weiter und hörte nicht auf zu laufen, bis ich die ersten Tropfen auf meiner Nase spürte. Es regnete. Ich hatte mich lange nicht mehr so frei gefühlt, ich drehte mich. Ich vergaß alles um mich herum, den ganzen Ärger, der zu Hause auf mich wartete. Für Außenstehende musste ich wie ein Irrer ausgesehen haben, doch in diesem Moment war mir alles egal. Ich ließ mich auf die Knie fallen, musterte die nassen Kopfsteinpflaster, schloss die Augen und konzentrierte mich auf das Geräusch, dass der Regen machte, wenn er auf den Boden traf. Es beruhigte mich. Ich weiß nicht, wie lange ich dort reglos gesessen haben muss, aber als ich nach Hause kam, war keiner mehr wach.

13. Januar 1934
Mein nächtlicher Ausflug blieb nicht ohne Folgen. Ich wurde krank und durfte lange weder mein Bett noch das Haus verlassen. Das bedeutete auch, dass ich nicht zur Schule durfte. Das Schlimmste, was mir passieren konnte. Ich wollte sie doch wiedersehen, ich musste sie wiedersehen. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an sie dachte, von ihr träumte. Ich wusste doch nicht einmal ihren Namen. Immer öfter wurde ich nachts durch Tritte an unsere Haustür und Steine, die gegen unsere Fenster geworfen wurden, wach. Elina begann zu weinen und ich versuchte sie zu beruhigen. Meine Mutter machte uns klar, dass wir uns ruhig verhalten sollten und dass es mit den Übergriffen nichts auf sich hatte, doch ich sah die Angst in ihr Gesicht geschrieben. Wir konnten nicht mehr schlafen und eines Nachts wachte ich auf, guckte aus dem Fenster und sah, dass jemand was auf die Wand unseres Hauses gemalt hatte. Gegen den Willen meiner Mutter lief ich hinaus und sah es geschrieben: Judensau. In dem Moment wurde mir klar, wer meine Familie nicht mehr schlafen ließ und ich beschloss, mich sobald ich wieder gesund war, zu rächen.

18. März 1934
Es war so weit, ich hatte Geburtstag und genoss die Anwesenheit meiner Familie und unserer Freunde. Für eine Weile vergaß ich sogar, all die Sorgen und Veränderungen, die mich in letzter Zeit so belastet hatten. Doch das sollte nicht von langer Dauer sein. Ich freute mich auf meinen ersten Schultag im neuen Jahr, ich freute mich darauf, mein Mädchen endlich wiederzusehen. Nachdem meine Eltern Sara und Elina ins Bett gebracht hatten, riefen sie Noah und mich zu sich. Wir setzten uns an den Küchentisch und mein Vater begann, zu erzählen. Nachdem er diesen einen Satz gesagt hatte, schaute ich ihm auf die Lippen und schaltete alles um mich herum aus, ich hörte ihm nicht mehr zu. Ich spürte einen Stich in der Nähe meiner Brust - Ich sollte nicht mehr auf meine Schule gehen. Noah sagte nichts zu dem Ganzen, ich verstand ihn nicht, ihm war alles so gleichgültig. Mir wurde heiß. Ohne aufzublicken stand ich auf, ging auf mein Zimmer, weinte leise, um Elina nicht zu wecken. Ich wollte auf keine neue Schule, nicht bevor ich sie kennenlernen durfte.


15. April 1934
Die ersten zwei Woche auf meiner neuen Schule habe ich überstanden, mir fiel auf, dass all meine Klassenkameraden Juden waren, doch machte ich mir deswegen keine Gedanken. Ich hatte einen Weg gefunden, sie zu sehen. In den Pausen schlich ich mich von dem Schulgelände und stellte mich vor die hohen Zäune, die meine alte Schule markierten. Ich umfasste die Eisenstangen und hoffte, dass sie auf dem Schulhof sein würde und tatsächlich ich konnte sie täglich 10 Minuten lang beobachten:: ihre geschmeidigen Bewegungen, ihr schönes Lachen und ihre fliegenden Haare, wenn sie sich bewegte.
Und endlich kam es zu dem Moment, auf den ich schon so lange gewartet hatte. Sie musste mich bemerkt haben, als ich sie wieder einmal in der Pause beobachtete, kam sie zu mir rüber und berührte meine Hände. Wir lächelten uns gegenseitig an. Im nächsten Augenblick merkte ich einen leichten Schmerz, irgendjemand zog mir an meinen Haaren. Es war der Lehrer, der mich damals zum Nachsitzen verdonnert hatte. Er befahl mir, zu verschwinden und mich gefälligst von den Mädchen fernzuhalten. Ich lief nach Hause, an meiner Mutter vorbei, schloss die Tür hinter mir und schmiss mich auf mein Bett. Ich
weinte laut, was für einen Sinn machte mein Leben noch, wenn ich nicht einmal mehr mein Mädchen sehen durfte. Ich wollte nicht mehr zur Schule. Nie wieder. Ich blieb bis zum Abend in meinem Zimmer und ging mit verheulten Augen zum Abendessen. Ich schaute meine Eltern mit hasserfülltem Blick an. Sie waren Schuld, dass ich sie nicht mehr sehen durfte. Sie und kein anderer.

30. April 1934
Ich weigerte mich zur Schule zu gehen, aber das interessierte niemanden so richtig. Mir wurde jetzt erst bewusst, was zu Hause los war. Niemand verließ das Haus, meine Schwestern gingen nicht mehr in den Kindergarten. Patienten kamen auch keine mehr. Alles um mich herum schien sich verändert zu haben und ich habe nichts davon mitbekommen, weil ich mit mir selber beschäftigt war. Es fühlte sich komisch an; ich fühlte mich in meiner Haut nicht mehr wohl, mein Zuhause kam mir nicht mehr wie mein Zuhause vor. Ich versuchte meiner Familie so gut es ging, aus dem Weg zu gehen. In nächster Zeit bekamen wir oft Besuch von einem Herren, er sah etwas älter aus als mein Vater, er war vielleicht so um die 50. Jedes Mal wenn er kam, trug er einen schwarzen Mantel und einen schwarzen Hut, etwas unheimlich sah er aus. Er brachte uns immer ein paar Bonbons mit, vor allem Elina und Sara freuten sich, wenn er kam. Onkel Jürgen, so wie sie ihn nannten, und mein Vater verzogen sich in das Arztzimmer meines Vaters und wir wussten, dass sie nicht gestört werden wollten. Ich fragte mich, was die beiden zu besprechen hatten, aber ich wagte es nicht, meinen Vater danach zu fragen. Hätte doch sowieso nichts gebracht.

8. Mai 1934
Selbst Paul hatte sich von mir abgewandt, ich verstand nichts mehr. Weder meine Eltern noch meine alten Freunde interessierten sich für mich. Was war denn bloß los hier? -Die Kinder auf der Straße sahen mich seltsam an. Ich wollte nicht mehr rausgehen. Alles hatte sich gegen mich verschworen. Sie hätte mich bestimmt nicht alleine gelassen. So lange hatte ich sie nicht mehr gesehen und meine Sehnsucht wurde von Tag zu Tag stärker. Die Anrufe und Besuche von Onkel Jürgen wurden immer mehr, manchmal rief er sogar zweimal an einem Tag bei uns an. Gestern schlich ich meinem Vater hinterher, schaute mich um und war mir sicher, dass mich keiner sah. Ich lauschte an der Tür, wirklich etwas verstehen konnte ich nicht, aber es schien ein ernstes Gespräch zu sein. Mein Vater lachte nicht. Ich konnte nur Brocken aufschnappen, so etwas wie Papiere und es ging um Geld, um viel Geld. Ich beließ es hierbei und verschwand wieder in mein Zimmer, bevor mich jemand entdeckte.

16. Mai 1934
Es war Schawuot. Meine Mutter bat mich, zu unserem Metzger um die Ecke zu gehen, bei dem wir schon seit vielen Jahren unser Fleisch kauften. Früher war ich sogar mit dem Sohn befreundet. Am Abend sollten Freunde und Familie kommen, die mit uns zusammen feiern wollten. Ich machte mich auf den Weg und nahm Sara mit. Ich nahm sie bei der Hand und gemeinsam liefen wir die Treppe hinunter, um die Ecke. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Im Geschäft war niemand, es hatte nicht nur heute geschlossen. Es schient komplett geschlossen zu sein. Zwei Holzstäbe waren an die Tür genagelt, wo auch das Schild mit der Aufschrift „GESCHLOSSEN“ hing. Wir gingen wieder nach Hause und ich erzählte meiner Mutter von dem geschlossenen Metzger. Sie nickte bescheiden und bat mich noch einmal zum Supermarkt zu gehen. Aber das Fleisch aus dem Supermarkt durften wir doch gar nicht essen, die Schlachtweise entsprach nicht der unserer Religion. Ohne auf meinen Einwand einzugehen, hielt sie die Tür auf und bat mich wieder, zum Supermarkt zu gehen. Ich konnte das nicht nachvollziehen, doch ich tat das, was sie von mir wollte.
Meine Mutter stand den ganzen Tag in der Küche und sie sagte uns, wir sollten unsere wichtigsten Sachen in den Karton, den sie in unser Zimmer gestellt hat, packen, damit alles aufgeräumt ist, wenn unsere Gäste kommen. Ohne mir groß Gedanken zu machten, packte ich mein Tagebuch und einen Stift ein, mehr brauchte ich nicht. Ich las gerne in den Seiten am Anfang meines Tagebuchs, auf denen ich von meiner glücklichen Familie schrieb, von den gemeinsamen Erlebnissen, sorglos und einfach schön. Wenige Stunden später kamen die ersten Besucher: meine Tante, mein Onkel und meine drei Cousins. Danach dauerte es nicht mehr lange, bis fast alle Plätze an unserem Esstisch belegt waren. Vier waren noch frei. Es klingelte. Onkel Werner. Es klingelte erneut, neugierig machte ich die Tür auf. Ich konnte nicht glauben, was ich dort sah – sie. Ich starrte sie an, von Kopf bis Fuß. Sie drückte mir eine Schokoladenpackung in die Hände und lief zu meiner Schwester. Ich ließ ihre Eltern hinein und schüttelte ihnen die Hände. Beim Spielen erfuhr ich ihren Namen: Doris hieß sie. Was für ein wunderschöner Name. Wir setzten uns an den Tisch und begannen zu essen. Mein Blick schweifte die ganze Zeit auf ihr. Ich hatte das Gefühl, als würden sich heute alle besonders gut verstehen. Klar, an Feiertagen stritt sich sowieso niemand, aber heute war doch alles noch ein bisschen besonderer. Vielleicht lag das auch nur an ihrer Anwesenheit. Es wurde spät und die Gäste gingen. Ich umarmte sie zum Abschied, schloss die Augen und ihr Geruch stieg mir in die Nase. Ich hätte in ihren engelsgleichen Haaren versinken können. Alle waren weg, ich legte mich auf mein Bett und wollte mich umziehen, als meine Eltern uns riefen und meinten, dass wir noch einen Ausflug machen würden. Ich wunderte mich ein wenig, da es schon spät war und wir normalerweise keine Ausflüge machten, schon gar nicht nachts. Ich zog mich an und nahm Sara auf den Arm, da sie bereits eingeschlafen war. Ich setzte mich mit ihr schon einmal ins Auto und wartete auf die anderen. Meine Mutter schloss die Tür ab, sie sah sich beunruhigt um, als würde sie sich vor etwas fürchten. Mein Vater verstaute einige Dinge im Kofferraum, ich konnte leider nicht erkennen, was er verstaute. Mein Vater setzte sich ans Steuer und es ging los. Ich musste eingeschlafen sein, mein Mutter weckte mich. Benommen schaute ich mich um und stieg aus. Es war ziemlich dunkel, mein Vater drückte mir einige Papiere in die Hand. Papiere – das war das, worüber Papa mit Onkel Jürgen geredet hatte. Ich schaute sie mir an, oben rechts in der Ecke befand sich ein Bild von mir, was noch gar nicht so alt war. Doch dadrunter stand nicht Samuel Horowitz, sondern Friedrich Mayer. Auch das Geburtsdatum stimmte nicht, ich war nicht 1918, sondern 1920 geboren. Ich wies meine Mutter auf den Fehler hin, sie sagte, dass das ganze ein Spiel war. Ein großer Mann kam auf uns zu und wollte unsere Papiere sehen. Er gehörte bestimmt zu dem Spiel dazu, also zeigte ich ihm meinen Ausweis und schaute ihm in die Augen ohne eine Miene zu verziehen. Nachdem er alle Ausweise kontrolliert hatte, folgten wir ihm. Er hielt schließlich an einem Waggon einer Eisenbahn an und meinte, dass wir hinauf steigen sollten. Ich freute mich, ich dachte, dass das alles zu unserem Spiel gehörte. Ich war lange nicht mehr mit der Eisenbahn gefahren. In dem Moment schossen mir viele Gedanken in den Kopf. Ich wollte wissen, wo wir hinfuhren und was wir dort machen würden. Morgen Mittag wollte ich Doris unbedingt besuchen und ihr von unserem Ausflug erzählen.
17. Mai 1934
Wir saßen auf dem harten Boden und ich hatte das Gefühl, als würden wir schon Ewigkeiten in der Bahn sitzen und irgendwie hörte sie nicht auf, zu fahren. Es wurde heller und so langsam begriff ich, dass diese Fahrt nicht wieder nach Hause gehen würde. Irgendetwas stimmte hier nicht. Ich schlief ein.

Ich wurde durch ein unsanftes Rütteln meines Bruders geweckt. Wir waren da. Meine Mutter schaute wieder ein wenig besorgt. Wir stiegen aus und wieder kontrollierte uns ein Mann. Er fragte mich wie ich hieß und ich wollte gerade Samuel Horowitz sagen, doch fühlte ich das Knie meines Vaters in meinem Rücken. Ich stockte und sagte schließlich Friedrich Mayer, er musterte mich und meine Familie und lies uns durch die Schranke gehen. Als ich mich umschaute, bemerkte ich, dass alles anders aussah, es fühlte sich anders an und vor allem klang alles ganz anderes. Die Menschen sprachen nicht so wie wir zu Hause. Ich konnte kaum verstehen, worüber die Leute redeten. Wir stiegen in einen Bus und fuhren bestimmt wieder einige Stunden. Als wir ankamen, war es wieder dunkel. Wir stiegen aus und mein Vater hielt einen Schlüssel in der Hand, er öffnete die Tür zu einer Wohnung. Ich wunderte mich, wie lange mussten meine Eltern das ganze hier schon geplant haben, ohne dass ich, ohne dass wir Kinder davon etwas mitbekamen. Oder wusste Noah etwa davon? Ich war fertig und wollte einfach nur in mein Bett. Wir trugen die Kartons in die Wohnung und unsere Eltern zeigten uns unsere Zimmer. Ich fiel auf mein Bett und schrieb alles auf, was mir in den Sinn kam:
traurig wütend ängstlich verlassen
unsicher verwirrt einsam
verletzt verstört
FREMD

30. Mai 1934
Heute hatte ich meinen ersten Schultag. Ich hatte Angst: wir würden mich meine neuen Klassenkameraden wohl aufnehmen? Würde ich Freunde finden? Würde ich mich einleben können? Wie waren die Lehrer? Ich vermisste meine Heimat. Ich kam in die Klasse und alle lachten mich aus, sie sahen anders aus als ich und das Gleiche dachten sie auch von mir. In der Pause standen viele Menschen um mich herum und ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Ich war froh, als der erste Tag vorbei war und ich wieder nach Hause konnte. Ich war traurig und wollte einfach nur wieder nach Hause, als ich Mama von meinen Sorgen erzählte, meinte sie, dass ich mich schnell einleben werde und dass alles gut werden wird. Warum sollte ich mich einleben, wenn wir wieder nach Hause fahren. Wir würden doch nach Hause fahren, oder?

10. Juni 1934
Das einzig Gute an dem Ort hier war, dass meine Familie sich wieder annäherte. Es entstand etwas, was ich in den letzten Jahren so vermisst hatte: Ein Familienleben. Elena besuchte hier jetzt die erste Klasse und Sara kam in den Kindergarten, die beiden strahlten, wenn sie nach Hause kamen. Alle schienen glücklich zu sein, nur ich nicht. Hingen sie denn gar nicht an unserer Heimat, unseren Freunden, unserer Familie? Ich vermisste Doris und beschloss, ihr bald einen Brief zu schreiben.

18. Juni 1934
Meine Mutter sprach mich immer öfter auf den Karton mit meinen Sachen an, ich sollte meine Sachen auspacken, doch wieso sollte ich das tun, wenn wir doch bald nach Hause fahren. Wir würden doch nach Hause fahren oder? Ich lernte zwar mit der neuen Situation umzugehen, wusste langsam, wie ich die Kleidung tragen musste, um nicht ausgelacht zu werden und konnte auch schon wenige Worte in der neuen Sprache. Die einzige Schwierigkeit war das Schreiben, das fiel mir schwer. Obwohl es genug Leute in meiner Klasse gab, die ich nett fand, isolierte ich mich. Warum sollte ich mich auch an eine neue Umgebung gewöhnen, wenn wir den Ort und somit die Menschen wieder verlassen würden?

3. Juli 1934
Als ich heute auf der Bank im Schulhof saß, setzte sich ein Mädchen aus meiner Klasse, zu mir. Sie lächelte mich an und fragte mich, ob ich hier denn jetzt bleiben würde und sagte, dass sie froh sei, dass ich zu ihnen in die Klasse gekommen bin. Ich erzählte ihr die ganze Pause lang von meiner Heimat, sagte aber auch, dass ich bald wieder nach Hause fahren würde. Sie schaute mich etwas traurig an und fragte mich schließlich, ob ich ihr Freund sein wollte. Ich kann das Gefühl nicht in Worten beschreiben, mein Herz rutschte mir in die Hose, doch eigentlich fühlte es sich ganz gut an. Ich küsste sie auf die Wange und wir gingen Händchen haltend in das Klassenzimmer zurück.

„Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl.
Warum vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.“ (Zitat: http://www.literaturepochen.at/exil/multimedia/pdf/brechtdauerexil.pdf)



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